Iosif


On the whole, bear in mind that I´ll be around. Or rather,

that an inanimate object might be your father,

especially if the objects are older than you, or larger.

So keep an eye on them always, (…)

Aus dem Gedicht To my daughter, Joseph Brodsky

 

Es war ein überdurchschnittlich warmer Märztag. Nicht selten versank die Laguna Veneta noch an Frühjahrsmorgen in winterlichen Nebeln, heute jedoch war der Himmel klar. Hinter den hohen Mauern der Friedhofsinsel San Michele roch es nach jungen Gräsern und welken Schnittblumen. Ihren Mantel hatte Anna unter den linken Arm geklemmt, in ihrer rechten Hand hielt sie einen beschriebenen Zettel.

Anna wollte ihren Augen nicht trauen. Zum wiederholten Male ließ sie ihren Blick über die glatte, graue Stele gleiten: Da war die beständige, in kyrillischen und lateinischen Zeichen eingravierte Inschrift. Doch darunter fehlte etwas. Lediglich zwei kleine, unsauber ausgeführte Bohrlöcher bezeugten, dass hier ein Gegenstand gehangen hatte. Über Jahre war Anna der scheußliche Briefkasten aus rostfreiem Edelstahl ein Dorn im Auge gewesen. Er war an meinem Grabstein montiert worden, um der Flut an Post Herr zu werden, die Verfechter der Poesie an mich richteten. Aus Europa, aus Russland, aus Amerika, ja, aus aller Welt pilgerten sie in die Lagunenstadt, um ihre Schreiben persönlich einzuwerfen. Lange Zeit hatte Anna kein Verständnis für diese merkwürdige Prozedur, und wer konnte es ihr verübeln. Der praktische Nutzen des Metallkastens hatte bei den Verantwortlichen über jedwedes ästhetische Empfinden gesiegt – ein Verbrechen an der Schönheit an sich.

Nun war er entfernt worden. Anna schaute sich um. Auf dem mit Bodendeckern bepflanzten Beet, in einer Vase weißer Chrysanthemen, unter einem benachbarten schief aus der Erde ragenden Kreuz – sie entdeckte einige unzustellbare Nachrichten, die der Wind verstreut hatte. Lichtstrahlen trafen auf die Netzhäute in Annas Augen, die daraus resultierenden Informationen liefen weiter in ihren Kopf, dort entstanden Bilder aus vermeintlichem Licht, in Farbe und kontrastreich. Die Dinge formten sich auf wundersame Weise an einem Ort, an dem Dunkelheit herrschte. So war und ist es um die Wirklichkeit bestellt.

Die vergangenen Winterferien hatte Anna bei ihrer Mutter in New York verbracht: in der Stadt, wo sie geboren worden war, in dem Haus, in welchem ich starb, noch bevor sie drei Jahre alt wurde. An einem verschneiten Abend durchstöberte Anna die Bibliothek Marias, um sich schließlich meine Nobelpreisrede vorzunehmen. Zur Nacht überkam sie ein lyrisches Gefühl, ganz unvermittelt war es da, verbunden mit dem Bedürfnis, ihre Gedanken zu vertextlichen.

Damals reifte in ihr die Idee, es den Fans gleichzutun und das Gedicht, das eher beiläufig entstanden war, an meiner Ruhestätte zu hinterlegen. In Dialog mit einem Toten treten… Das war ein Widerspruch in sich, wie sie fand, aber dennoch wollte sie es, getreu Mannonis Ausspruch, Je sais bien, mais quand même, nicht unversucht lassen.

 

Anna griff nach Kieselsteinen, die Fremde auf dem bogenförmigen Dach des Grabmals umsichtig gestapelt hatten. Sie ließ das oberste Steinchen durch ihre langen Finger gleiten, um gleich darauf alle mit einem Schlag hinunter zu stoßen. Am liebsten hätte sie die Verse mit einem Filzstift auf den blanken Marmor geschrieben. Letztlich verzichtete die Tochter aus gutem Hause auf ihr gutes Recht.

Tag für Tag hatte sie sich ihre Venedigreise ausgemalt: La Nebbia machte die Inselstadt still und geheimnisvoll. In der Frühe waren nur wenige Menschen unterwegs. Die Überfahrt zum Totenareal wurde von einer stattlichen Möwe begleitet, von der Anna annahm, dass sie meine Seele beherbergte. Am Hauptschauplatz stand Anna dann am Grab, nach wie vor lag über allem ein nebulöser Schleier. Das Poem in den Briefschlitz und sogleich: Vom alten Gemäuer zu ihr hinüber, von den Lorbeerbäumen auf sie herab, von leichten Windstößen um sie herum – von ringsum strömten väterlicher Stolz und Liebe. Es bestätigte sich für sie: Anna und ich, Iosif, nicht mehr Dad oder па́па, waren über Blut und Zeit hinaus verbunden. Jedes Mal, wenn sie das Szenario durchspielte, stieg ihre Laune an.

 

Die Anreise zur Grabanlage hatte am Morgen die Zitterpartie eingeleitet. Anna nahm den Wasserbus der Linie 4.1 ab Fondamente nove. Sie wäre gern an der Reling stehengeblieben, aber Touristen und Einheimische schoben Anna in jener organischen Dynamik, wie sie sich in bewegten Mengen entwickelte, in den Innenraum. Anna war genervt und setzte sich auf eine Ablagefläche in der Mitte, die meisten Leute standen dicht gedrängt, manche kämpften um einen Platz an einem der Fenster, um mit ihren Smartphones oder Spiegelreflexkameras in geeigneter Sekunde einen Schnappschuss der Laguna di venezia zu ergattern. Der Bootsmotor begann zu brummen, es roch nach Benzin und die Luft staute sich, noch ehe das Vaporetto zum Übersetzen bereit war. Anna wurde es heiß, Schweißperlen klebten an ihrem dunkelblonden Haaransatz. Hektisch knöpfte sie ihren dicken Mantel auf, und da ihren Armen kein Spielraum blieb, um ihn abzulegen, öffnete sie kurzerhand Strickblazer und Bluse, riss die Revers weit auseinander. Anna atmete auf. Unter einem transparenten Bustier traten ihre rosafarbenen Brustwarzen zum Vorschein.

„Una turista senza contegno…“ Anna bemerkte ein Flüstern, das ihr unangenehm nahekam. „La giovane non sa di comportasi…“ Sie hob ihr Gesicht. Schräg gegenüber von ihr, in zweiter Reihe hinter einer Japanerin mit Zwillingen, gestikulierten zwei alte Frauen. Als die Italienerinnen bemerkten, dass Anna sie musterte, streckte eine der beiden ihren Zeigefinger über die Köpfe der Kinder hinweg und richtete ihn auf Annas Dekolleté: „Ragazza, non ci va… Non devi farlo cosi…“ Die Menschen um sie herum schauten unbeteiligt, aber pflichteten sie den Moralaposteln bei? Von irgendwoher vernahm Anna Gelächter.

Glücklicherweise dauerte die Fahrt bis zur Haltestelle Cimitero nur knappe zehn Minuten. Doch selbst auf dem Steg empörten sich die Friedhofsgängerinnen weiter: „Osserva l´affisso! … Osserva l´affisso!“ Am Anleger war ein Verbotsschild angebracht: ein Piktogramm zeigte eine weibliche Figur mit Bikinioberteil. „I morti, i morti!“ Anna war beschämt, zugleich wütend darüber, dass sie als Urlauberin abgestempelt worden war. „Mi importa un cazzo!“, sagte Anna sehr leise, während sie mit zittrigen Händen Knöpfe und Reißverschluss schloss.

Sie schritt die prachtvolle Zypressenallee entlang, vorbei an Ossuarien, in denen aus Platzmangel die Knochen nicht-berühmter Leichen untergebracht wurden, erreichte das rostige Tor zum evangelischen Abschnitt. Von all dem Schönen und dem Schaurigen vermochte Anna momentan nicht das Geringste wahrzunehmen.

 

Zur Krönung nun die Sache mit dem abhanden gekommenen Kasten. Anna presste ihre Lippen aufeinander und rieb sich durchs Gesicht. Gräberfelder, Grünflächen und Pfade – sie befand sich in einer profanen Parkanlage. Machte es Sinn, den Kontakt zu einem Verstorbenen an der Aufbewahrungsstätte seiner Überreste zu suchen? Was blieb sonst noch übrig? Vielleicht war tot gleich tot, Gebet um Gebet nichts weiter als ein Hirngespinst. Anna entschied, die Rückfahrt ins Casa Colleoni anzutreten.

Sie steckte das Papier ins Seitenfach ihrer Umhängetasche und zückte ihr Mobiltelefon: ein Medium zwischen zweifelhaften Realitäten, die während meines Daseins schlichtweg fehlten. Sie durchsuchte das Netz nach Erklärungen. Anna machte kleine Schritte, um beim Starren auf das Display nicht ins Stolpern zu geraten. An Bord der Fähre verkroch sie sich in eine digitale Ecke.

Zurück am Fährterminal nahm Anna ein Wassertaxi, welches sie die Fondamenta mendicanti hinauf schipperte. Die Fortbewegung auf ruhigem Gewässer hat von jeher die Anmut des Schwebens. Die Schwerkraft, die uns mit jedem Schritt und bei jeder Fahrt auf Landwegen daran erinnert, an den Boden der Tatsachen gebunden zu sein, scheint hier für eine Weile aufgehoben. Die Wasserstraße gibt einen Weg vor, behutsam manövriert sie uns an steilen Häuserfluchten vorbei, in ihrer Obhut finden wir Orientierung. Die modrige Undurchsichtigkeit der Canali strahlt etwas Heimeliges aus. Und bedenke: Wasser gleicht Zeit. Wenn du als Flaneur am Kai entlang schreitest, auf den trüben Strom hinabsiehst und den Geruch von Gewesenem einatmest, bist du einen großen Schritt auf die Ewigkeit zu gegangen. Der Tod vermag dann kein Gegensatz mehr zum Jetzt, lediglich dessen Begleiterscheinung zu sein. Dies begründet einen Großteil der Faszination, welche La Serenissima zu Lebzeiten bei mir auslöste.

Kraft ihres Bewusstseins durchfuhr Anna virtuelle Informationskanäle. Ihr Körper reagierte auf den Strom von Daten stärker als auf das Schaukeln jener Gondel.

 

Die Unterkunft befand sich in einer Nebengasse im belebten Stadtteil Cannaregio. Als Anna eintraf, kam Donna Silvia auf sie zu und bot ihr einen Tee an: „Kommen Sie, entspannen Sie erstmal.“ Anna nahm ihn dankend an und ging drei Stufen hinab in den Salotto. Dunkle Massivholzmöbel, deckenhohe Bücherregale, goldbeschlagene Rahmen und Lüster, üppige Sträuße weißer Lilien – alle Räume des schmalen Eckhauses strahlten eine einladende Großzügigkeit aus.

Annas Blick fiel auf einen in auffälligen Farben bezogenen Polstersessel: Er entfaltete eine einmalige Aura. Sie ging zu ihm hinüber und strich mit der freien Hand über den dicken Samtbezug, dessen Längsstreifen in satten Blau- und Grüntönen leuchtenden. Anna stellte die Tasse auf einem Beistellhocker ab und ließ sich in den tiefen Sitz fallen. Sie musste an eins meiner Gedichte denken, welches vor ein paar Jahren in meinem Nachlass gefunden worden war. Standing there, as furniture in the corner… Darin wandte ich mich direkt an meine kleine Anna, benannt nach der großen A. Achmatowa. Observe you, in twenty years, in your full flower... An einem Einzeltisch im Caffè Rafaella, Menschen führten Unterredungen, Menschen küssten sich, beschlich mich eine vage Todesahnung, der Regen draußen konnte dem Nachmittag nichts anhaben –

so schrieb ich den Entwurf zu jenem Text.

Anna kramte ihre Antwort, die inzwischen ein wenig zerknittert war, aus der Tasche hervor. Gelassen las sie ein letztes Mal Strophe um Strophe:

 

An meinen Vater

 

Ich will dich fortan bei dem Namen nennen,

den deine Mutter dir gegeben hat.

 

Falls Literatur den Staat verabscheut, wie

du sagst, so besitzt Sprache allemal

ein Anrecht darauf, Heimatort zu sein.

 

Iosif –

 

Quintessenz meiner gestrigen Lektüre.

Habe dein Gesamtwerk rationiert… Die

Angst, die mich antreibt, innezuhalten:

 

Dich in einem Rutsch zu lesen, bedeute,

die Endgültigkeit zu akzeptieren.

 

Iosif,

 

du begegnest mir ständig aufs Neue.

 

Sorgfältig faltete Anna das Blatt in der Mitte und strich seine Kanten glatt. Dann schob sie es in die rechtsseitige Ritze, die sich zwischen Sitzfläche und Sessellehne verbarg. Tief hinein, bis zu jenem Punkt, an dem sich die Stofflagen zu einer dicken Naht verbanden.

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